Erklärungsnot

Ich muss da weg. So geht das nicht. Ich habe meine Chance gehabt und offensichtlich verpasst. Erfahrungsgemäss kann ich an dem Punkt nichts mehr flicken. Der Aufwand ist zu gross, der Ausgang zu ungewiss. Jede Lektion dieses Unterrichts bezahle ich mit Geld, das mir bis vor einem Jahr fehlte. Die schlechte oder gute Angewohnheit genau hinzuschauen, wie mein Geld investiert wird, kann ich noch(?) nicht ablegen. Konkret denkt mein Hirn in diesem Fall: „Ist eine Minute des Unterrichts 2 Franken wert?“ – Wer jahrelang auf sein Geld warten und deshalb extrem achten musste, kann nicht von einem Tag auf den andern umschalten.

Warum kann ich meine Fragen und Bedürfnisse nicht einfach und klar formulieren, damit sie ankommen und ich zufrieden mein neues Musikinstrument lerne? Nach jeder Lektion habe ich das Gefühl, ich sollte mich verständlicher ausdrücken, ich sollte während der Lektion mehr auf meinem Instrument spielen, damit klarer wird, was mir schwerfällt. Ich ertappe mich dabei, dass ich im Unterricht verstumme. Plötzlich sind alle meine Fragen weg, ich erinnere mich nicht an sie, sie haben sich in Luft aufgelöst. Auch wenn die Übungsstunden zuhause einfach sind, in der Unterrichtsstunde aber wenig gelingt, bin ich frustriert.

Liegt das daran, dass ich erwachsen und ungeduldig bin, wie die Lehrperson meint. – Ich glaube es nicht: Meistens bei anderen Sachen verstehe ich ein Detail falsch und verschleudere deshalb meine kostbare Energie. Ich muss und will mir genau überlegen, wofür ich meine begrenzten Ressourcen einsetze. Das mache ich ein Leben lang so und das hat sich bewährt. Oft erhalte ich als Rückmeldung, dass ich rasch sei. Wenn ich nicht so schnell wäre, hätte ich in dieser Gesellschaft viel kürzer Bestand gehabt. Hohe Konzentration und Schnelligkeit sind meine persönlichen Geheimwaffen. Damit sind nicht behinderte Menschen oft überfordert, weil sie viel langsamer als ich sind und sich das nicht vorstellen können: Es passt nicht in ihr Bild „Wie-Behinderte-sein -müssen“.

Beim Musikunterricht kann ich die Noten nicht auseinanderhalten. Ich wirble die Griffe durcheinander. Ich frage die Lehrperson danach. Es sei ein gängiges Problem bekomme ich zu hören. Ich denke, wenn das eine normale Entwicklung ist, dann gibt es sicher viele gute Ideen, wie ich mit dieser Unordnung in meinem Kopf umgehe. Aber irgendwie kommt nichts, was zumindest ich begreife. Vielleicht habe ich die Frage falsch gestellt, vielleicht bin ich schon verstummt, weil ich mich schuldig fühle, ungeduldig zu sein. Also gehe ich ins Internet und drucke mir Tonleitern aus. Meine Überlegung ist, dass ich die Töne zu Leitern ordne, sie in meinem Kopf aufreihe, mit den richtigen Vorzeichen am Anfang der Zeile in Verbindung bringe und endlich meinen Fingern besser richtige Befehle erteilen kann. Für die Ohren ist die Orientierung so auch einfacher.

Es ist keine Lösung festzustellen, dass ein Durcheinander vorhanden ist und weil es vielen so geht, bin ich damit zufrieden? Wer, wenn nicht ich, bringt mein Durcheinander in Ordnung? Von der Lehrperson hätte ich Tipps erwartet. Sie schien eher verwundert, dass ich die Chromatische Tonleiter mit meinen Schwierigkeiten in Verbindung bringe und nicht darauf warte, dass sich das Problem von selbst bzw. durch Üben löst.

Ich höre mich während des Unterrichts zu oft sagen, dass ich dies oder jenes behinderungsbedingt nicht kann. Das macht definitiv kein Spass, auf seine Defizite reduziert zu werden. Umgekehrt bekomme ich fast vorwurfsvoll zu hören, dass ich zu rasch zuviel kann. Ist das ein Wunder, dass ich Fortschritte mache, wenn ich nicht arbeite und mir mehrmals täglich Zeit zum Üben nehmen kann? Kein Output bei dem Input wäre definitiv entmutigend.

Ich habe getan, was zu tun war: In der letzten Stunde habe ich mich von meinem Musikunterricht auf unbekannte Zeit zurückgezogen und parallel dazu eine neue Lehrkraft gesucht. Jetzt will ich ihr nicht all das um die Ohren hauen, was ich bisher vermisst habe. Ich denke, dass ich ihr sage, ich würde gern nur mit mir verglichen werden und nicht mit andern. Wie weit ich komme, kann heute niemand sagen. Also finde ich es wichtig, dass meine Technik und meine Bewegungen stimmen.

Gestern bin ich im Internet auf einen Artikel gestossen, der sich um die Aufklärung und Das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen handelt. Ich finde diesen Artikel lesenswert, auch wenn er nichts in dem Sinn mit der Wahrnehmung zu tun hat, wie es zuerst scheint.

Zu dumm, gehöre ich zu der Minderheit, die nie und nimmer mit der Mehrheit tauschen möchte, die sich nichts anderes vorstellen kann, als dass unsereins in ihren Schuhen stecken möchte. Welch ein köstlicher Irrtum!

Bitte keine Gefühle

Für diese Situation habe ich keine Lösung, was mich regelmässig ärgert. Nur dieser Ärger löst die Frage nicht, die lautet: Wie gehe ich als unsichtbar behinderte Person mit Menschen um, die nicht wahrhaben wollen, dass ich behindert bin. Regelmässig kommt das Argument, dass mich der Gesprächspartner trotz 100% IV-Rente und 100% Invaliditätsgrad nicht als behindert wahrnimmt. Im gleichen Atemzug wird bestätigt, dass die IV in der heutigen Zeit nur noch nach strengsten Kriterien Renten zuspricht. Was ist bei einer solchen Betrachtungsweise los, frage ich mich regelmässig. Was erwarten Menschen von einer berenteten Person? Wenn ich urprünglich erwartet hatte, dass eine Rente die Situation klären würde, so sehe ich mich getäuscht. Die nächste Frage lautet nämlich in der Regel, wie hoch der Prozentsatz der Rente sei. !00% Rente auf 100% Invaliditätsgrad.

Sollten meine Gliedmassen verdrehter aussehen, muss ich in dem viel zitierten Rollstuhl sitzen oder darf ich nicht intelligent sein? Ich habe immer den Verdacht, dass ich nicht in das Bild einer unterlegenen Person passe: Eine behinderte Person muss eine solche Unterlegenheit ausstrahlen, damit sie bequem schubladisiert werden kann mit dem Etikett „zu betreuen“. Da meine Mimik minim verarmt ist, sehe ich sehr seriös und ernsthaft aus und werde als belastbar eingestuft. Die Klangfarbe der Stimme ist etwas monoton, dass ich meistens so töne, wie wenn ich im Brustton der Überzeugung spreche. Manche Leute springen regelrecht auf meinen Tonfall an und aus Erfahrung weiss ich, dass ich mich besser schnellstmöglich in Sicherheit bringe. Manchmal aber bleibe ich wie angewurzelt stehen und verpasse den Absprung. Dann muss ich auf verbale Schläge nicht lange warten: „Sie müssen ihre Behinderung akzeptieren“, lautet ein beliebter Satz, der mir an den Kopf geworfen wird. – Endlich habe ich eine sinnvolle Beschäftigung!

Wenn ich guter Laune bin und den nötigen Humor habe, erkäre ich, dass die Akzeptanz einer Behinderung kein statischer Zustand ist: Es gibt Tage, an denen ein behinderter Mensch seine Behinderung akzeptieren kann, sie vielleicht sogar vergisst und es gibt Momente, in denen das nicht gelingt. Meistens habe ich die Lacher auf meiner Seite, wenn ich als Beispiel Hammer, Daumen und Nagel nehme: Ein Mensch, der mit dem Hammer den Daumen statt den Nagel trifft, wird in der Regel aufschreien und sich nicht zuerst für die willkommene Gelegenheit zum Einüben von Selbstbeherrschung und anderen wunderbaren Tugenden bedanken.

Brauche ich, so wie ich aussehe, eine Hilfestellung passiert nichts. Da stellt sich die Frage: Wie oft ist es sinnvoll die gleiche Bitte zu wiederholen, damit ich zu dem komme, was andere selbstverständlich haben. Wie gekonnt vergesse ich, dass ich Bedürfnisse habe und löse sie in Luft auf. Gestern habe ich es auf die Spitze getrieben: Natürlich weiss ich, dass es für nicht behinderte Personen schwierig ist, dass sie meine Informationen in ihren Erfahrungshorizont einordnen können. Gestern nun, bin ich etliche Male rund um ein Thema gekreist, um es zum Schluss beim Schopf zu packen:

Für viele Menschen ist der Höhepunkt einer festlichen Mahlzeit ein Dessertbuffet. Für mich selbstredend sicher nicht: Zuviel Auswahl, zuviele Menschen, Bewegung in einem mir fremden Lokal oder ungewohnt möblierten, festliche Kleidung mit entsprechenden Schuhen, Balancieren der Speisen auf einem Teller. Die einfachste Lösung, um nicht weiter aufzufallen ist, mich als Dessertmuffel zu bezeichnen. Nicht so gestern: Ich sagte mehrere Male, dass mir lieber wäre, dass auch die Nachspeise serviert würde und als ich zum vierten oder fünften Mal an meinem Tisch gefragt wurde und einige schon wiederholten, dass ich lieber serviert würde, fragte ich eine Tischnachbarin, ob sie so freundlich wäre und mir einige Nachspeisen bringen würde. Plötzlich war das ohne unangenehme Nachfragen möglich. So klar stehe ich selten für mich ein. Geschätzte zehn Male wurde das Thema erwähnt.  Ich frage mich, wieviel Zeit muss ich meinem Gegenüber geben und wann wird es lästig, wenn ich frage, weil „man nichts sieht“.

Behinderte Mutter

Wann ist Liebe echte Liebe und wer kann das beurteilen.

Walter Bs Textereien schildern wie es einer jungen, geistig behinderten Mutter aus Oberbayern ergeht. Ich bin bisher davon aussgegangen, dass Deutschland offener und weiter ist, wenn behinderte Mütter ein Kind bekommen, weil ich Sendungen im TV über begleitete Elternschaft gesehen haben. Im Internet werde ich mit diesem Stichwort „Begleitete Eltern Deutschland“ mühelos fündig. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass unser Nachbarland realisiert hat, dass es wichtig ist, Familien nicht auseinanderzureissen.

Vor dem Gesetz sind alle gleich. Davon gehen doch die Menschen eines Rechtsstaates aus. Aber das stimmt nicht: Wer sich nicht wehren kann, ist eben gerade nicht gleich. Über den wird bestimmt, beschlossen, verfügt. In der Beziehung Eltern-Kind ist es besonders schlimm: Die Zeit vergeht, die Kinder wachsen und die vom Leben ihrer Kinder ausgeschlossenen Eltern können die Zeit nie mehr nachholen. Etwas Unwiederbringliches geht verloren. Ganz zu schweigen von den Gefühlen, die ein Leben lang bleiben.

Die Schweiz, das ist bekannt, ist im letzten Jahrhundert stehen geblieben: Im ZGB in Artikel 311,1 steht:

Zitat

IV. Entziehung der elterlichen Sorge

1. durch die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde

1 Sind andere Kindesschutzmassnahmen erfolglos geblieben oder erscheinen sie von vornherein als ungenügend, so entzieht die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde die elterliche Sorge:

1.
Wenn die Eltern wegen Unerfahrenheit, Krankheit, Gebrechen, Ortsabwesenheit oder ähnlichen Gründen ausserstande sind, die elterliche Sorge pflichtgemäss auszuüben;
2.
wenn die Eltern sich um das Kind nicht ernstlich gekümmert oder ihre Pflichten gegenüber dem Kinde gröblich verletzt haben.

2 Wird beiden Eltern die Sorge entzogen, so erhalten die Kinder einen Vormund.

3 Die Entziehung ist, wenn nicht ausdrücklich das Gegenteil angeordnet wird, gegenüber allen, auch den später geborenen Kindern wirksam.

Ende Zitat.

So ist die Welt in Ordnung und so denkt unser Gesetzbuch und unsere Gesellschaft. Nein, nicht vor 50 Jahren, sondern heute im Jahr 2012. Die einzelnen Punkte sind aus den 70er Jahren, gelten aber bis heute. – Wenn eine Behörde will, kann sie diesen Artikel hervorholen und danach handeln. Ich muss es wiederholen: Betroffen sind die sozial Schwachen: „Ortsabwesenheit“ was soll dieser Begriff. Ich als juristischer Laie denke an ArbeiterInnen. In den 70er Jahren hatten ihre Kinder einen Schlüssel und gingen selbständig in die Wohnung. Schlüsselkinder wurden sie genannt.

An einem kleinen Ort, in dem ich wohnte, gab es eine Fabrik. Unvergessen ist mir die Erzählung, wie die Frau des Fabrikbesitzers sich um die Kinder ihrer Fabrikarbeiterinnen kümmerte: Diese Arbeiterkinder spielten mit den Kindern des Patrons und seine Frau schaute nach dem Rechten. Alle waren zufrieden. Heute würde man von Win-Win Situation sprechen. Solche Einzelinitiativen hat es sicher gegeben. Diese Erzählung hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, nicht weil sie der Normalfall sondern eben aussergewöhnlich war.

„oder ähnlichen Gründen“ da lässt sich jedes Motiv zum Obhutsentzug unterbringen.

Bekanntlich ist das gegenwärtige Gesetz über den Erwachsenen- und Kindsschutz aus dem Jahr 1912, wurde wohl etwas angepasst in der Handhabung, weil sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat. Aber die Artikel waren da und jede Behörde konnte sie zur Anwendung bringen, was auch getan wurde, wenn es denn passte und wenn es passte ebenso nicht.

Auf Anfang 2013 tritt das neue Gesetz in Kraft. – Ob und wieviel sich da zum Guten wendet, bleibt abzuwarten. Ich mag mich gar nicht auf die Suche machen, wie es mit der behinderten Liebe heute steht.

Zitat, aus dem Webauftritt von Ursula Egli, (der Filmtitel, um den es sich beim Begriff „Behinderte Liebe“ handelt, findet sich erst sehr weit unten, also lang scrollen)

Behinderte Liebe
Mitarbeit am Expose zum mehrfach ausgezeichneten Film von Marlis Graf, bei dem sie auch selber mitwirkte.

Kultur schrankenlos!

Alle, dazu gehöre ich auch. Endlich kann ich mit meiner Gehhilfe nicht nur in einen Bus, ein Tram oder einen Zug, sondern auch in ein Museum. – Klar es gibt sie immer, diese aufmerksamen Zeitgenossen, denen entgeht, dass ich nicht auf einem Fahrrad sondern einem Tretroller bzw. Trottinett fahre. Sie weisen mich darauf hin, dass ich auf dem Gehsteig mit meinem Gefährt nichts zu suchen habe. Wo dann?

Aber jetzt hat das EDI (Eidgenössisches Parlament des Innern) an so unangepasste behinderte Menschen wie mich gedacht und ich bin also willkommen: Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: Kultur.

Weil verschiedene Büros und Amtsstellen für viele Menschen selbsterklärend sind, nicht aber für Menschen, die Worte nicht richtig wahrnehmen, erkläre ich die Abkürzungen: Für eilige Zeitgenossen rasch erklärt: Menschen, welche Wahrnahmungsstörungen haben, nehmen auch Worte nicht genug genau wahr, um sie im nächsten Schritt zuverlässig im Gedächtnis ablegen zu können und pflegen folglich oft aus dem Gedächtnis nur eine ungefähre Spur hervorzuholen, was Mitmenschen extrem aufregen kann. Also nicht das EDI selbst, aber das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung EBGB hat die Teilhabe an der Kultur zum Schwerpunktthema 2011 bis 2013 bestimmmt. Am 29. November 2012 findet die „Kick-Off“ Veranstaltung im Zentrum Paul Klee in Bern statt.

Gemäss Programm (kleines PDF Bild etwa in der Mitte des Bildschirms „Programm Tagung schrankenlos“) eröffnet Bundesrat Alain Berset die Veranstaltung. Er steht dem EDI vor.

U.a. werden Projekte zu diesen Themen vorgestellt: Führungen in Gebärdensprache, iPad für Gehörlose und La Chaise Rouge (ACCES-CIBLE), allg. Kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

Am Nachmittag gibt es Ateliers: Kultur-förderung, – vermittlung, -schaffen. Das ist bloss die erste Stunde und ein spannendes und vermuttlich intensives Programm geht bis um 17.30 Uhr weiter. Anmeldeschluss ist der 27. Oktober 2012.

Ob man hören oder lesen wird, was bei diesem „Kick-Off“ gesagt und getan wird?

Lieblingsfragen

Zu meinen Lieblingsfragen gehört diese: „Sag mir einfach, was du nicht kannst.“ Klar doch: Was ist einfacher? Ich habe meine Behinderung seit meiner Geburt, ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, weniger intelligent zu sein – oh, darüber wolltest du nicht sprechen – noch habe ich einen blassen Schimmer, wie es ist, einen nicht behinderten Kopf zu haben, nichts kompensieren zu müssen.

Was ich aber weiss, ist, dass die ganze Tourismusindustrie zusammenfallen würde, wenn alle meinen Kopf hätten: Sich zurechtzufinden an einem unbekannten Ort, ist für mich kein vergnügliches Hobby, sondern eine Leistung, die ich weder als Ferien bezeichnen würde, noch freiwillig erbringe. – Etwas entspannt hat sich die Lage, seit ich mit meinem Trottinett unterwegs bin: Da kann ich es mir von der Energie her erlauben, irgendwo rasch zu gucken, wie es aussieht und wieder umzudrehen. Aber die Fehler, die ich mache sind mit den längeren Distanzen, die ich zurücklegen kann, grösser geworden:

Ich habe bei meinem zweiten Campingausflug an einem See eine ziemlich unangenehme Erfahrung erlebt: Ich wollte etwas Bewegung und irgendwo Nachtessen gehen. – Gemäss Navigationsgerät sollte im nächsten Ort ein Restaurant sein. Dort angekommen, fand ich nichts. Das nächstgelegene Restaurant hatte einen merkwürdigen Namen, dem ich nicht traute. Als ich mit meinem Trottinett vorbeifuhr, war auch klar warum: Es ist Bestandteil eines FKK.

Noch etwas weiter weg vom Campingplatz fand ich ein Restaurant und ass mein Nachtessen. Leider war zu diesem Zeitpunkt der Akku meines Navigationsgerätes schon ziemlich leer. Die Rückfahrt wurde zum Spiessruten- und Wettlauf gegen den Einbruch der Dunkelheit. Ursprünglich hatte ich erwartet, dass ein Navigationsgerät eine Hilfe sein würde. Ich stelle nun fest, dass es nur zwischen 1 und 2 Stunden mit Akku läuft, viel zu wenig lang, um zu Fuss oder mit dem Trottinett unterwegs zu sein.

Meine Bezugsperson bei meiner Autogarage hat mir bestätigt: Wenn ich campiere, kann ich im Auto auf dem Campingplatz Radio hören oder das Licht anschalten, ohne die Batterie des Autos zu leeren. Aber ein Navigationsgerät ist ein Energiefresser.

„Sag mir einfach, was du nicht kannst.“

Ich kann meine Beine bewegen, trotzdem fühle ich mich unsicher, wenn ich für einen Spaziergang aus dem Haus sollte. Zu Fuss gehe ich von A nach B: Ich kann von meiner Wohnung bis zur Tramstation und dann in die Stadt zu einem Arzttermin und zurück. Was ich bereits nicht mache ist: Von meiner Wohnung, bis zum Coop im Ort, einkaufen und zurück in die Wohnung.

Was ist der Unterschied? Der Weg zum Coop ist sicher kürzer, aber: Er führt an Blöcken vorbei mit vielen Wohnungen drin. Mir fällt auf, dass ich auch mit dem Trottinett solche Gebiete lieber meide: Eine Masse von Blöcken mit einer Masse von Wohnungen gibt in meinem Kopf eine Masse von Wahrnsignalen ab.
Erschwerend für den Coop kommt hinzu, dass ich im an sich kleinen Laden, mit der Flut der Produkte überfordert bin und mich das Einkaufen viel Energie kostet. Ich habe früher verschiedene Arten ausprobiert, mein Essen heimzuschaffen: Ich habe ein Einkaufswägeli benutzt und prompt einen Tennisarm bekommen. Ich habe es mit einem Rucksack versucht, meine Rückenschmerzen wurden grösser. Einkaufstaschen schleppen, wie es einigen Menschen können, überfordert mich auch.

Mit dem Trottinett geht beides viel besser: Ich fühle mich, egal ob ich fahre oder das Trottinett schiebe, sicherer. Lasten kann ich aufs Trottinett packen und bequem mitführen. Das Gefühl, fliehen zu können, nicht ausgeliefert zu sein, gibt mir Sicherheit. Das Ausgeliefert-sein bezieht sich sowohl auf Menschen, die mich ängstigen könnten, wie auch auf Momente, in denen ich mit der räumlichen Orientierung nicht klarkomme: z.B. sieht die gleiche Strecke am Tag oder in der Nacht völlig anders aus, so anders, dass ich manchmal sehr viel aushalten muss, um keine Fehlentscheidungen zu treffen: Wenn die Gefühle zu stark werden, könnte ich des nachts aus dem Tram steigen. Dann müsste ich 30 Minuten auf das nächste Tram warten und wäre irgendwo im Dunkeln mir selbst überlassen: Solche Entscheidungen gilt es zu vermeiden. Je älter ich werde desto erfolgreicher werde ich darin, die Signale meines Kopfes richtig zu deuten.

Aussensicht

Vor einigen Jahren war in Zürich eine Tagung zum Thema Hirnverletzung: Im Zusammenhang mit den IV-Revisionen ist es für viele behinderte Menschen schwierig, sich zu orientieren: Gehöre ich zu den 15 %, deren Rente überprüft wird, wie schwer behindert, bin ich eigentlich. Angst geht um. Daneben gibt es Behinderungen, die als solche nicht akzeptiert werden, weil die heutigen Methoden der Medizin noch nicht ausreichen, um sie nachzuweisen. Die IV richtet keine Rente aus und der behinderte Mensch soll arbeiten. Berühmt geworden ist die Formulierung „zumutbare Willensanstrengung“ für Schmerzpatienten.

Ein Referent an dieser Tagung war Dr. Zangger. Er war so freundlich und stellte seine Zusammenfassung ins Internet.  Es geht um Patienten, die eine Hirnverletzung erlitten haben und deren Persönlichkeit nach diesem Vorfall verändert sein kann

Zitat:

…..verminderter Antrieb, eingeschränkte Kritikfähigkeit,
Selbstüberschätzung mit verminderter bis fehlender Störungseinsicht, gereiztere Reaktion
schon auf leichten Stress, erschwerte soziale Kommunikation, Verlangsamung, und Leistungsschwankungen.
Wegen der primären „Unsichtbarkeit“ werden diese Störungen auch
von der Umwelt (Familie / Freunde, Arbeitgeber, Gesellschaft) oft nur teilweise und verzögert
wahrgenommen. Sie werden auch schlecht verstanden und deshalb nicht als Folge der
Hirnverletzung akzeptiert…..

Ende Zitat

Solche Eigenschaften sind auch bei Menschen zu beobachten, die bei ihrer Geburt eine Hirnverletzung erlitten haben. Es kommt auf die Hirnregion an, die beschädigt ist, nehme ich als Laie an. Wenn das Gleiche kaputt ist, wird auch das Gleiche nicht funktionieren.

Allerdings zu einfach darf man sich das Hirn nicht vorstellen. Es ist eher so hochkomplex, dass die heutige Medizin noch wenig Ahnung hat. Die Plastizität des Hirns wird betont und dass sich das Hirn ständig neu vernetzt. Wenn das in der Absolutheit stimmen würde, wie ich einige Neurologen verstehe, dann hätten gerade Babies die grösste Chance zu genesen. So ist es in der Wirklichkeit nicht.  Aber einem Wissenschaftler würde es sicher Freude machen, wenn es so wäre. Sicher macht auch Übung den Meister und diese Vorstellung der Neuvernetzung vom Hirn teile ich. Was mich tröstet ist, das ein Hirn keinen Unterschied macht, ob ich ein Eis real esse oder mir nur vorstelle, ich würde es essen. Die Glückshormone werden so oder so ausgeschüttet und bei der zweiten Art doppelt, weil das Gewicht nicht zunimmt.

Von der Umwelt in dem Fall des Neugeborenen zuerst Familie und Schule wird manchmal auch keine Rücksicht genommen. Erschwerend kommt hinzu, dass es kein „Vorher“ gibt. Gereizte Reaktionen schon auf leichten Stress gelten dann als Charaktereigenschaft und nicht als Teil der Behinderung.

In meinen Kindheitserinnerungen unvergessen der Auftrag: „Räum dein Zimmer auf“ und ich bin überfordert.

So gibt es Missverständnisse und hirnverletzte Menschen sind auf Menschen mit viel Toleranz angewiesen, die sie als behinderte Menschen akzeptieren, so wie sie sind.

Wie weit ist weit?

Mein Anderssein ist am einfachsten zu greifen, wo ich so anders wahrnehme, dass nicht Behinderte fast schreien, wenn sie mir zuhören. Dazu gibt es ein aktuelles Beispiel:

Durch Bauarbeiten, ist der ÖV verändert. Die Linie eines Trams endet bei der Baustelle und die Passagiere müssen auf Busse umsteigen, die eine ungewöhnliche Route fahren. Haltestellen sind verschoben, manche zusätzlich umbenannt. Ticketautomaten stehen nicht an den provisorischen Einstiegsstellen. Alles, was ich auswendig gelernt habe, ist durcheinandergewirbelt und funktioniert nicht. Kurz: Chaos pur für meinen Kopf. Etwas neutraler betrachtet: Überall steht Personal, das Fragen beantwortet, aber natürlich keine Ahnung hat, dass es für mich sehr wohl ein Problem ist, eine Haltestelle zu Fuss weit weg zu suchen, wenn ich darauf nicht vorbereitet bin und kein Hilfsmittel dabei habe.

Nach meiner erneuten, schweren Depression vor wenigen Wochen, bin ich geschwächt. 10 Tage ausschliesslich im Bett haben meine Muskulatur schwinden lassen. Für eine Arztkontrolle musste ich über die beschriebene ÖV Baustelle. Ich hatte die Wahl umzusteigen oder mit meinem Erwachsenentrottinett, das mir für meine Wahrnehmung viel Sicherheit gibt, die Restdistanz zurückzulegen. Ich war mir bewusst, dass ich viel kürzere Distanzen zum Muskelaufbau brauchen würde. Mir ist auch klar, wie wenig Zeit seit meinen Tagen im Bett verstrichen ist. Ebenso einen Einfluss auf meine körperliche Leistungsfähigkeit hat das Medikament und die Höhe der Dosierung, auch das habe ich bedacht. Aber: Die Muskulatur will ich wieder aufbauen. Daran führt kein Weg vorbei. Meine Entscheidung war, die Baustelle mit dem Trottinett zu umfahren, was 30 Minuten Zeit für einen Weg beanspruchte.

Die Reaktion der Ärzte lässt mich vermuten, dass meine Wahrnehmung sie befremdet. Wie weit ist angemessen weit? Muss ich als behinderter Mensch mein Bedürfnis nach Bewegung selbstredend zurückstellen? Wie erkläre ich einleuchtend, dass umsteigen für mich anstrengender gewesen wäre, zumal ich bis jetzt nicht weiss, wo sich die provisorische Haltestelle für die Rückreise befindet und noch schlimmer deren Ticketautomat.

Mir leuchten die Unterschiede ein. Für mich ist das Umsteige-Verhalten so befremdlich, wie mein Trottinett-Verhalten für Neurotypiker, welche die Mehrzahl der Menschen stellen. Ich benutze den Fachbegriff neurotypisch gern, weil er nicht wertend ist, weder für die eine noch die andere Seite. Er wird in diesem Blog öfters vorkommen. Es gibt kein richtig oder falsch. Das ist ein wiederkehrendes Thema: Platz haben in einer Gesellschaft, die ausgrenzt, ständig übersetzen müssen, obwohl ich selbst nie einen anderen Kopf hatte und nur aus den neurotypischen, für mich befremdlichen Reaktion schliessen kann, was ich falsch gemacht haben könnte. Es gibt auch unter den nicht behinderten Menschen solche, die nicht durch mein Verhalten befremdlich reagieren, sondern selbst eigenartig sind. Um diese Menschen mache ich lieber eine grossen Bogen.