Teenagers

Leseecke mit Fortsetzungsgeschichte

Lioness lernt kämpfen

Die Fee

Noch wenige Meter, und dann hat Lioness ihr Ziel erreicht. Vor sich sieht sie schon das Schulhaus, und gleich biegt sie in den Schulhof ein, den sie durch das Gartentor betreten kann. Gegen das Trottoir und die Strasse hin schützt ein Zaun die Spielbälle der Kinder vorm Weghüpfen.

Heute hat Lioness Besonderes vor. Fürs Ballspielen ist die Jahreszeit längst zu kalt. Die Kinder reden mit glänzenden Augen nur noch von der bevorstehenden Weihnacht. Sie erzählen sprudelnd von den Vorbereitungen. Dazu gehört das jährlich stattfindende Weihnachtsspiel. Lioness hat heute ihre Blockflöte in den Schulranzen gelegt. Damit will sie vorspielen, um zu denen zu gehören, die die Weihnachtslieder auf ihrem Instrument begleiten. Sie tragen ein Engelskleid und kommen mehrmals auf die Bühne, um sich am Schluss unter wärmstem Applaus zu verbeugen.

In der dritten Stunde endlich packen die Flötenspieler ihre Instrumente aus und spielen nach den Vorgaben ihres Lehrers, Herrn Bär. Lioness ist vom Resultat überrascht. Wie immer im Kindergarten und in den ersten beiden Schuljahren soll sie eine wortlose Rolle spielen, einen stummen Hirten oder die Maria, die dasitzt und schweigt. Sie könne es sich noch überlegen, hat Herr Bär gesagt.

Lioness ist enttäuscht, weil sie schon lange Blockflöte spielt. Für den Unterricht muss sie in die Stadt fahren. Sie muss in einem alten Haus hinter einer grossen Tür in einem dunkeln Flur eine Treppe hochsteigen, und dann betritt sie das düstere Zimmer, in dem der Unterricht stattfindet.

Lioness liebt Musik. Wie allen Kindern in ihrem Alter hat man ihr als Anfängerinstrument eine Blockflöte in die Hände gedrückt. Die Anfangslektionen mit der rechten Hand machen Lioness Spass. Die ersten beiden Finger der linken Hand folgen Lioness Befehlen schon widerwilliger. Richtig gemein verhält sich der Ringfinger. Er bewegt sich kraftlos, viel zu langsam, und der kleine Finger äfft seine Bewegungen nach. Beide stellen Lioness‘ Geduld auf eine harte Probe.

Oft wird ihr das Üben zur Last. Sie ist hin- und hergerissen, ob sich ihr Einsatz lohnt. Die rechte Hand verbessert sich mit der Zeit, aber die linke Hand kaum. Lioness kennt den Riss, der kaum sichtbar senkrecht durch ihren ganzen Körper läuft. Links und rechts sind zwei eigenständige Welten.

Lioness hört in ihrem Kopf, wie die Lieder flüssig tönen, während die Finger ihrer linken Hand auf den Ausbohrungen der Flöte zu lange kleben bleiben. Sie kann sie einfach nicht überlisten.

Manchmal, statt zu üben, überlegt sich Lioness insgeheim, welches Instrument zu ihr passen würde. In der Wohnung steht ein Klavier. Das ist es sicher nicht. Beide Hände, sämtliche Finger und mindestens ein Fuss müssen zusammenspielen. Das geht nicht. Singen ist auch nichts. Lioness ist zu schüchtern. Oft wird sie ermahnt, lauter zu sprechen, was ihr nicht gelingt. Wenn sie für ihr Ohr angenehm laut spricht, müssen sich die Menschen vorbeugen, um sie zu verstehen. Die Töne sind beim Singen nicht fassbar, und Lioness hat keine Ahnung, ob sie richtig, zu hoch oder zu tief singt. Das ärgert sie oft selbst.

Immer hält sie ihre Augen offen für das Instrument. Auf Weihnachtskarten hat sie Engel gesehen, die Trompete blasen. Sie findet dieses Instrument toll. Die linke Hand ruht. Auf alten Abbildungen halten die Engel mit der rechten Hand ihre golden glänzende Trompete. Beide Beine und die zweite Hand sind ruhig.

Puste hat Lioness. Bei allem, was nicht glatt läuft an und in ihrem Körper, von ihrer Lunge ist Lioness begeistert. Sie hat genügend Atem, kann lang unter Wasser tauchen. Sie ist überzeugt, dass ihre Behinderung nicht bis in ihre Lunge vorgedrungen ist. Bei anderen Organen ist sie sich nicht sicher. Darüber spricht kein Erwachsener mit ihr, was sie manchmal beunruhigt. Aber zu ihrer Lunge, als einzigem innerem Organ, hat sie das Zutrauen und freut sich darüber.

Wenige Wochen nach Weihnachten, an einem grauen Wintertag, poltert Lioness nach dem Flötenunterricht die Treppe hinunter. Nach wenigen Stufen bleibt sie erstaunt stehen. Das Treppenhaus ist heller als gewöhnlich, und vor ihr steht eine Gestalt, die Lioness sofort als freundlich erkennt. Sie ist erwachsen, aber längst nicht so alt wie Eltern sind. Sie hat wallendes, blondes Haar, das bis in die Mitte ihres Rückens reicht. Es ist wie das von Lioness gekraust. Um ihren Kopf strahlt Licht, nicht besonders stark, aber klar erkennbar. Bevor sich Lioness wundern kann, warum sie nicht erschrickt, wo sie in einem engen Treppenhaus plötzlich eine unbekannte, erwachsene Person trifft, lächelt die Fee sie an und deutet auf ein Paket, das sie mit sich trägt. „Ich habe dir einen Herzenswunsch erfüllt“, sagt sie. Lioness kommt langsam näher und schaut gebannt auf das Paket.

Es ist länglich und viereckig. Während Lioness herauszufinden versucht, was in diesem Paket sein könnte, stellt sie fest, dass es nun auf der Treppe liegt und nur noch der Lichtschimmer an die Fee erinnert. Wäre es ein Sommertag, würde Lioness denken, dass die Haustür einen Spalt offengeblieben ist und die Staubkörner im Licht des gebündelten Sonnenstrahls tanzen und so das dunkle Treppenhaus erleuchten. Lioness schaut sich in allen Richtungen um und sucht die Gestalt. Sie ist verschwunden, während der Lichtschimmer langsam verblasst. Lioness erwacht wie aus einem Traum. Die altersschwache Glühbirne beleuchtet wie immer das Treppenhaus knapp. Lioness senkt den Kopf. Zu ihren Füssen liegt das Geschenk. Lioness versucht es zu bewegen und stöhnt innerlich. Gerade leicht ist dieses Ding nicht. Sie, die nie sicher ist, wie etwas gemeint ist, hat keinen Zweifel daran, dass dieses Etwas für sie ist, dass sie ein Geschenk bekommen hat.

Wieder voll da, reisst Lioness das Geschenkpapier ungeduldig und ungestüm weg, wie es ihre Art ist. Unter dem Papier ist alles schwarz. Vorsichtig legt Lioness das Ding auf die schmale Seite, um das Restpapier wegzuzerren. Sie schaut sich an, was da liegt, und versucht eine Idee zu bekommen, was es sein könnte. Ein länglicher, schwarzer Koffer kommt zum Vorschein. Zwei grosse Metallschnallen verschliessen ihn. Lioness versucht sofort, die Schnallen zu öffnen. Sie müssen aufgeklappt werden. Sie erinnert sich an sämtliche Erfahrungen mit Schnallen, und sie wägt ihre Erfolgschance ab. Mit der rechten Hand macht sie sich ans Werk und ist erfreut. Sie hat sich auf mehr Widerstand gefasst gemacht.

Endlich sieht sie den Inhalt. Eine kleine Trompete liegt da. Lioness nimmt das Instrument aus der Hülle und betrachtet es von allen Seiten. „Puh“, ruft sie in den Becher. Der gibt keinen Ton zurück, sondern schluckt ihn frech. Am Ende des Blasrohrs fehlt das Mundstück. Das liegt noch im Koffer, in einer passenden Vertiefung. Lioness steckt es ins Rohr und führt das Instrument an die Lippen. Hier in dem Treppenhaus traut sie sich nicht hineinzublasen, obwohl es sie im ganzen Körper juckt. Die Blockflötenlehrerin hat den nächsten Schüler und ist sicher nicht erfreut, wenn Lioness im Treppenhaus trompetet. „Schnell nach Hause“, denkt Lioness, die sich nichts sehnlicher wünscht, als die Trompete zum Klingen zu bringen. Also zwingt sie sich zu ruhigen Bewegungen, legt alles vorsichtig an seinen Platz zurück und verschliesst den Koffer sorgfältig.

Sie stellt ihn auf seine kurze Seite. Sie hat gesehen, dass ihr ein Tragriemen ermöglicht, das Instrument auf den Rücken zu schwingen. Rasch steigt sie zwei Treppenstufen hinunter. Jetzt ist ihr Rücken auf der Höhe des Instruments. Sie muss den Schulsack ummontieren. Zuerst nimmt sie den Lederriemen der Trompete, dann schlüpft sie verkehrt in die Schlaufen des Schulsacks, der jetzt an ihrer Brust hängt. Dann stellt sie sich breitbeinig hin, spannt die Muskeln an und hebt das Instrument. Sie wartet, bis sich ihr Körper an das neue Gewicht gewöhnt hat, dann balanciert sie die ersten Schritte leicht schwankend die Treppenstufen hinunter und geht, sicher geworden, rasch Richtung Busstation. Ihre Ungeduld und Vorfreude drängen sie heimwärts.

Wie erstaunt ist Lioness, als sie zur ersten Trompetenstunde das neue Schulzimmer betritt. Ein junger Trompeter ist ihr Lehrer. Sein Lächeln gleicht dem der Fee. Sein Haar ist dunkel und reicht bis zum Hals. Im Zimmer sitzen schon Schüler und Schülerinnen. Lioness wundert sich weiter. Ein Schüler hat nur einen Arm. Eine Schülerin scheint wie Lioness Schwierigkeiten zu haben, ihre linke Seite zu bewegen.

„Willkommen bei uns“, begrüsst der Lehrer Lioness. „Ich heisse Chris und freue mich, dass du zu uns in die Anfängerklasse kommst. Wie du siehst, ist bei uns jeder gern gesehen. Uns eint die Freude an unseren Instrumenten und unserem Spiel. Alle haben Platz.“ Die andern Kinder umringen Lioness und freuen sich, dass sie hier ist. Alle spielen begeistert auf ihren Trompeten, und das Üben macht ihnen Spass. Nie müssen sie dazu ermahnt werden.

Lioness gehört sofort dazu. Der Junge mit einem Arm bekommt den Auftrag, ihr zu helfen. Seine Noten sind leicht angeknabbert. Offensichtlich nimmt er seinen Mund zu Hilfe, wenn ihm die zweite Hand fehlt. In dieser Runde lacht keiner, wenn sich die Kinder mit den Bewegungen helfen, die sie können, und mit viel Fantasie Unmögliches möglich machen. Lioness lächelt ihn schüchtern und erleichtert an.

Lioness ist froh, an ihrem Platz zu sitzen. Alles ist neu für sie. Noch nie hat sie eine solch bunte Gruppe ausserhalb einer Einrichtung für behinderte Menschen gesehen. Die Mütter, die meistens ihre behinderten Kleinen begleiten, fehlen auch. Ein Freiraum ohne Erwachsene, das gefällt ihr. Lioness ist begeistert. Sie schaut sich genau um, hört aufmerksam zu und ist sich nicht sicher, ob sie träumt oder ob es eine solche, ihr bisher unbekannte, Welt wirklich gibt.

Der Gegensatz zu ihrem Alltag könnte nicht grösser sein. Hier muss sich niemand anpassen, wie sie es täglich mit viel Energie und Ausdauer versucht. Hier ist jeder so, wie er ist, und es gibt keinen Massstab, nach dem sich alle ausrichten. Lioness ist überrumpelt und schwankt zwischen Freude und Zweifel.

Lioness ist gewöhnlich unter neuen, fremden Menschen sehr verspannt und zapplig. Hier ist sie die Ruhe selbst. Sie fühlt sich wohl, und ihre Behinderung fällt von ihr ab, wie ein überflüssiger Rucksack. Ihr kommen die seltenen Momente auf ihren Skiern in den Sinn, wenn sie mit gleichmässigen Bewegungen einen mittelschweren Hang hinunterfährt. Das fühlt sich gleich gut und beschwingt an.

Natürlich hat Lioness ihre Trompete oft zu Hause in die Hand genommen. Statt abends einzuschlafen, wie sie sollte, hat sie unter der Bettdecke in das Mundstück geblasen. Zuerst kam kein Ton heraus. In der Zwischenzeit aber bringt Lioness das Mundstück zum Klingen. Es ist eine feucht fröhliche Sache, weil Lioness vor Aufregung bläst und spuckt. Hauptsache ein Ton, findet Lioness. Der Rest ist ihr egal.

Chris zeigt den Kindern, wie sie das Mundstück der Trompete einfacher anblasen können. Lioness beobachtet genau. Sie übernimmt die Bewegungen, sobald sie begriffen hat, was sie tun soll. Chris erklärt, dass es eine Weile dauert, bis die Kinder Fortschritte sehen. Trompete ist ein schwieriges Instrument, sagt er, obwohl es nur drei Ventile hat. Mit den Lippen und dem Druck wird später der Ton erzeugt. Geduld und Beharrlichkeit sind Lioness‘ Stärken. Davor hat sie keine Angst. Von allen Dingen, die sie besitzt, ist ihr die Trompete am liebsten. Um nichts in der Welt würde sie sie wieder hergeben. Täglich trainiert sie freiwillig. Niemand muss sie ermuntern, ihr Instrument auszupacken und zu üben.

Als im nächsten Jahr Weihnacht naht, lernen die jungen Trompeter ihre ersten Weihnachtslieder. Lioness ist voll dabei und freut sich, dass ein Lied endlich genauso tönt, wie sie es im Kopf hört.

Wieder können die Schüler ihre Blockflöten in die Klasse bringen. Herr Bär lächelt Lioness an und sagt: „Bring du bitte deine Trompete mit.“ In der Pause stehen viele Schüler um Lioness‘ Pult und wollen unbedingt die Trompete von Nahem sehen. Kaum einer bringt aus dem herumgereichten Mundstück einen Ton heraus. Grässlich knurrt das Mundstück dunkel, wenn ihm ein Geräusch entlockt werden kann. Lioness wäscht es nach all den vergeblichen Versuchen.

Beim Vorspielen ist Lioness diesmal ruhig und sicher. Sie stellt sich vor, dass Chris und die Trompetenschüler ihr helfen. Die ganze Klasse klatscht nach ihrem Vortrag spontan.

Im Weihnachtsspiel kündet Lioness mit ihrer Trompete die Engel an, die den Hirten auf dem Feld erscheinen. Endlich eine Rolle im Schultheater, die Lioness auf den Leib geschrieben ist.